Die Pfeile zischen über uns hinweg. Die schweren Eisenspitzen der Pfeile dringen tief in die Bäume ein, die uns Deckung bieten. Doch die Übermacht ist zu stark, immer mehr Orks kommen auf uns zu. Lange werden wir hier nicht mehr aushalten können. Es wird Zeit, dass die Verstärkung eintrifft. Es ist sehr ungewöhnlich, dass die Waldläufer noch nicht eingetroffen sind, das ist nicht ihre Art. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht in eine Falle der Orks getappt sind. Das wäre zu bitter, jetzt kurz bevor wir unseren Widersacher stellen können. Ein letztes Aufbäumen braucht es, ein letztes Mal müssen wir unsere Kräfte sammeln, um uns in Mittelerde der dunklen Bedrohung entgegenzustellen.
Mit Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde ist das erste Miniaturen-Kampagnen-Brettspiel im Herr der Ringe Universum erschienen. Das Brettspiel von Nathan Hajek und Grace Holdinghaus, herausgebracht von Fantasy Flight Games und auf Deutsch durch Asmodee lokalisiert, war bei uns auf dem Brettspiel-Tisch. Ob es sich gelohnt hat, die Elbenumhänge aus dem Schrank zu holen und übergestreift zu haben und warum ein Höhlentroll selbst gestandene Abenteurer in die Flucht schlägt, könnt ihr bei uns im Test zum Spiel nachlesen.
Die abenteuerliche Reise durch Mittelerde
Eines kann ich vorweg nehmen: Durch uns wurde Mittelerde nicht gerettet. Wir haben uns zwar wacker bis zum Ende gehalten, aber leider waren wir einfach nicht gut genug. Natürlich ist so etwas nicht besonders aufbauend, wenn nach 12 Missionen das große Ganze nicht geschafft wird. Wir fühlten uns schon recht niedergeschlagen, aber das lag eben nicht am Spiel sondern nur an uns. Mittlerweile wissen wir was schief gelaufen ist und hoffentlich können wir die noch laufenden zweiten Kampagne dadurch zu einem positiven End-Erlebnis führen.
Doch egal wie die Kampagne endet, das Spielerlebnis welches wir hatten, war atemberaubend. Zuerst waren wir etwas skeptisch, als Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde angekündigt wurde. Immerhin muss ich zugeben, ich bin kein großer Herr der Ringe Fan. Die Filme waren für mich unterhaltsam und die Bücher hab ich zwar auch gelesen, aber wirklich gefesselt haben sie mich einfach nicht. Und andere Herr der Ringe Brettspiele hab ich aus diesen Gründen auch nicht gespielt.
Für den ein oder anderen mag vielleicht noch abschreckend wirken, dass das Spiel nur mit App spielbar ist. Aber damit haben wir bei uns keinerlei Berührungsängste. Wenn es gut umgesetzt ist, ist das für uns kein Problem. Also stellten wir uns dem Brettspiel und begannen unsere einzigartige Reise durch Mittelerde.
Ich war nach Abschluß der Kampagne schon ein wenig überrascht darüber, dass mir das Spielen und das Erleben der Kampagne von Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde richtig gut gefallen hat. Klar, es war nicht alles super optimal, gerade die App zickte ab und zu mal rum, aber im Großen und Ganzen bin ich mit einem sehr positiven Gefühl aus unserer Kampagne herausgegangen.
Ein magisches Brettspiel
Das Brettspiel schaffte es, dass ich mich mit jeder Mission immer weiter mit meinem Helden identifizierte. In unserer Zweiter-Kampagne spielte ich Bilbo. Doch dieser Bilbo hatte nichts mit dem Bilbo zu tun, den ihr aus den anderen Medien kennt, denn dieser Bilbo wurde mein Bilbo. Ein kleiner Meisterdieb war er, der mir im Laufe des Spieles immer weiter ans Herz gewachsen ist. Ich habe mich gefreut, wenn wir zusammen eine Probe bestanden hatten und ich habe mich geärgert, wenn ich nicht die Karte gezogen habe, die wir brauchten.
Es gibt viele Punkte, die dazu beitragen, dass das Brettspiel Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde zu einem meiner Highlights 2019 geworden ist.
Dabei spielt sich der Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde sehr flüssig. Die wenigen Regeln sind schnell verinnerlicht und sind wirklich nur ein Grundgerüst. Der Fokus liegt hier eindeutig beim Erleben. Erfolge werden nicht über Würfel generiert, sondern über euer eigenes Kartendeck und dieses könnt ihr, zumindest was eure Rolle angeht, modifizieren. Dabei haben die Karten auch noch einen anderen Zweck. Sie können vorbereitet werden und geben euch so teilweise recht mächtige Fähigkeiten, die ihr einfach braucht, um in Mittelerde bestehen zu können. So lernte mein kleiner Bilbo irgendwann, wie er Gegnern aus dem Weg gehen kann, ohne dass sie ihn angreifen. Er ist eben klein und kann sich überall durchmogeln.
Dumm nur, dass er eben diese Karte vorbereiten muss, bevor sie einsatzbereit ist und um sie vorzubereiten muss ich sie erst einmal ziehen. Tja, und da jede Runde das Kartendeck neugemischt wird, kann es schon passieren, dass in einer Mission genau diese Karte nicht ein mal gezogen wurde, obwohl ich wusste, dass sie im Deck vorhanden ist. Aber auch soetwas führt zu einem emotionalen Spielerlebnis. Wenn ich beim Ziehen der Karten zu meinen Mitspielern sage: „Ich brauche genau diese eine Karte und wenn ich die ziehe, wird alles gut und wir können die Mission erfolgreich abschließen.“, zog ist natürlich nie die Karte, die es brauchte.
Eine App sie alle zu knechten
Doch Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde hat auch seine Problemzönchen. Allzuoft kommt es nämlich einfach zu Verständnissproblemen, wenn der Kartentext nicht ganz eindeutig ist. Hier hilft dann zwar das Blättern im umfangreichen Referenzhandbuch, aber an einigen Stellen ist das Problem eben zu speziell oder es sind Timing-Probleme. Dann hilft nur Augen zu und nach Bauchgefühl gespielt. – Oder natürlich so, dass es für uns Spieler das bessere Ergebnis war. – Aber die gröbsten Probleme gibt es in der App. Hier muss allerdings betrachtet werden, dass viele Dinge ja noch im Nachinein behoben werden können.
So sind wir während unserer Missionen auf Übersetzungsfehler gestoßen, wo dann einfach mitten im deutschen Text der englische Ursprungstext steht. Zudem hatten wir einmal den Fall, dass die App nicht gezeigt hat, wo ein Gegner plaziert werden sollte. Sowas ist natürlich nervig, insbesondere weil die Gegner nach dem Platzieren in der App nicht mehr an einem bestimmten Ort zu sehen sind.
Auch nervte uns, dass scheinbar einfache Sachen nicht umgesetzt wurden. So hätten wir uns einfach Aktivierungstoken oder die Möglichkeit in der App gewünscht anzugeben, ob ein Charakter seinen Zug schon hatte oder nicht. Denn gerade im Laufe des Spieles können einige Aktionen, selbst im 2er Spiel, so umfangreich werden in, dass wir schon öfter den Überblick verloren haben. Aber auch in unserer 4er Runde ist uns das schon relativ früh passiert. Hier schaue ich mit ein bisschen Angst in die Zukunft und vielleicht muss ich dann einfach die Tokens von Imperial Assault rausholen. Aber wie ich sagte, sind dies für mich nur kleine Probleme, die uns nicht wirklich behinderten.
Was mich ein bißchen gestört hat, ist die Tatsache, dass es auf Deutsch keine Sprachausgabe für die teilweise recht umfangreichen Texte gibt. Das hätte der Atmosphäre noch einmal mehr Tiefe gegeben. Und stelle ich die Sprache auf Englisch um, wird hier auch vorgelesen. So musste ich selbst immer die Texte vorlesen, die für ein schnelles ad-Hoc Vorlesen relativ holprig geschrieben sind und sich deswegen teilweise nicht so flüssig lesen lassen.
Simple Regeln für mehr Spielspaß
Was sich nicht so einfach updaten lässt, sind die Karten und Regeln, die das Spiel ausmachen. Das müssen sie aber auch nicht. Denn im Grunde ist Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde die Essenz aller vorangegangen Fantasy Flight Games Spiele. Die App-Unterstützung ist, bis auf die oben erwähnten Kleinigkeiten, die konsequente Weiterentwicklung der schon bekannten Apps aus Imperial Assault und Villen des Wahnsinns. Auch der modulare Spielplan ist schon bei anderen Brettspielen aufgetaucht. Selbst der Mechanismus, mit dem die Erfolge in Herr der Ringe bestimmt werden, kam in einem anderen Spiel von Fantasy Flight Games vor. Denn ähnlich wie im Arkham Horror LCG, zieht ihr bei einer Probe eine über euren Grundwerten bestimmte Anzahl an Karten. Habt ihr zum Beispiel eine Stärke von drei. Zieht ihr folglich bei einer Probe drei Karten aus eurem Deck und schaut, ob ihr so viele Erfolgssymbole dabei habt, wie die Probe gefordert hat. Je mehr Erfolge ihr dabei erzielt, desto besser. Ähnlich wie bei Imperial Assault, könnt ihr diese Erfolge nämlich auf eure Waffen oder Fähigkeiten aufteilen, um so noch mehr Schaden auszuteilen oder eine Probe mit Sicherheit zu absolvieren. Und das Quest-Kartendeck aus Fallout findet sich auch in Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde wieder. Nur eben nicht als physisches Kartendeck, sondern eben als digitales Deck innerhalb der App.
Bei vielen Proben wisst ihr einfach nicht, wie viele Erfolge ihr braucht. Die App fordert euch nur, auf eine bestimmte Probe zu machen. Und nachdem ihr eure Erfolge eingegeben habt, sagt euch die App, ob ihr erfolgreich wart oder nicht. Das erinnert mich unheimlich stark an vergangene Zeiten, als ich noch der Spielleiter war und genau sowas von meinen Mitspielern forderte. Und auch das macht Herr der Ringe so speziell, genau diese Augenblicke, wenn ihr entscheiden müsst ob die Erfolge reichen oder nicht. Denn ihr könnt je nach Situation auch noch Schicksalsmarker in Erfolge umwandeln, aber solche Schicksalsmarker wachsen nicht auf Bäumen und ihr müsst mit ihnen auch noch gut haushalten. Oder aber ihr überlegt, ob ihr eine der vorbereiteten Karten nutzen wollt. Insgesamt könnt ihr nämlich einmal pro Runde eine Karte aus eurem Deck vorbereiten, um sie im späteren Verlauf zu nutzen. Dabei könnt ihr nicht eine bestimmte Karte aussuchen, sondern dies ist wieder dem Zufall überlassen.
Und so lässt euch Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde ständig Entscheidungen treffen. Manche bringen euch weiter, andere wiederum nicht.
Mittelerde erkunden
Produktionstechnisch ist das Brettspiel Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde auf einem sehr hohen Niveau. Die beigefügten Miniaturen sind gut verarbeitet und die Helden anzumalen macht einfach nur Spaß. Wobei die Auswahl der Helden sich nicht an den Herr der Ringe Fan wendet. Denn wir wissen ja aus den Filmen, dass Bilbo, Aragorn, Gimli und Legolas sich erst später kennengelernt haben. Doch über sowas kann ich locker hinwegsehen, denn es sind eben die Charaktere, die man durch Buch und Film kennt. Meiner Meinung nach wird dadurch einfach das Spektrum an Leuten erweitert, die genau deswegen einen Zugang zu Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde finden können. Hätte man bei Fantasy Flight Games nur unbekannte Helden genommen, wäre es vielleicht der Geschichte von Mittelerde gerecht geworden, allerdings wäre der Wiedererkennungswert doch erheblich geringer.
Auch die modularen Karten-Teile sind auf ihren beiden Seiten wunderbar gestaltet. Sie bringen mir die weiten Lande von Mittelerde wunderbar herüber. Leider nicht so prickelnd sind die Schlachtplan-Spielteile. Denn ab und zu wechselt ihr von der Reise durch Mittelerde zu einem speziellen Ort, an dem ihr eine Mission erfüllen müsst. Und hier sind die Schlachtplan-Spielteile eher praktischer Natur. Ihr legt zwar an verschiedene Stellen entsprechende Token, um so Hindernisse oder örtliche Gegebenheiten zu simulieren, aber was in der App durch 3D-Objekte noch recht atmosphärisch rüberkommt, ist dann als 2D Karte-Teilen auf dem Brettspieltisch eher nüchtern. Was auch nicht so gut gelöst ist, ist die Platzierung der Reise-Spielplanteile. Die einzelnen Felder sind Hexfelder und die einzelnen Module müssen in verschiedenen Positionen zu einander platziert werden. Also auch das Puzzeln wird trainiert. Doch dies ist aus meiner Sicht kein Schwachpunkt, da es immer wieder spaßig ist, wenn wir die Teile zusammensetzen und uns immer gegenseitig vergewissern müssen, ob die Teile richtig positioniert sind.
Für mich ist es auch nicht so gut gelungen, wie die kommenden Reise-Spielplanteile in der App präsentiert werden. Zwar gibt es eine Art „Fog of War“, der euch zeigen, wo weitere Teile in Zukunft angelegt werden sollen, allerdings werden auch Teile platziert, die eben nicht durch den Nebel dargestellt wurden. Für mich persönlich wäre es praktischer gewesen, wenn einem die App einfach anzeigt, wie die Teile platziert werden und diese dann erst einmal ausgegraut hätte. So müsste man nicht im Nachhinein umständlich ein großes Spielfeld verschieben, wenn dann doch noch ein Teil dazu kommt.
Ein Happy End für Brettspieler?
Unterm Strich ist Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde eine kleine Überraschung gewesen. Es machte uns einfach Spaß, durch die Welt zu ziehen und dem Bösen die Stirn zu bieten. Und wir freuen uns auch, wenn es in der großen Runde dann weitergeht mit einer neuen Kampagne, in der wir zwar wieder die gleiche Hauptquest erleben werden, die dann aber durch die ganzen zufälligen Nebenquest doch ein bisschen anders sein wird. Was Fantasy Flight Games mit Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde geschaffen hat, ist für mich die beste Verknüpfung aus App und Brettspiel. Klar, ein paar Kleinigkeiten gilt es noch auszumerzen, aber der Spielspaß wird damit nicht gemindert. Und vielleicht war es auch nur die lose Bindung an die Welt von Tolkien, die für mich als Nicht-Hardcore-Fan daraus solch ein Erlebnis machte. Und selbst meine Frau, die zuerst recht skeptisch war, freut sich auf neue Abenteuer in der fernen Welt von Mittelerde.
Euer Rating zu Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde
Das Spiel Herr der Ringe – Reise durch Mittelerde ist bei Asmodee erschienen.
Für die Review wurde uns ein Rezensionsexemplar von Asmodee zur Verfügung gestellt.